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Gefühle sind für Schwächlinge?

Aktualisiert: 25. März 2023

Die Emotionale Verkrüppelung unserer Gesellschaft







Schon mal gehört?: „Gefühle gehören nicht auf die Arbeit!“ oder "Emotionen zu zeigen ist unprofessionell!" - Interessante Idee, aber auch ziemlich verrückt. Das käme beim Menschen, der nun mal immer #Gefühle und #Emotionen hat, temporär oder dauerhaft einer emotionalen Verkrüppelung gleich. Erich Fromm bezeichnete desgleichen als nekrophil, also lebensabgewandt und lebensfeindlich. Nur in seltenen Fällen ist Gefühlskälte bzw. ein Mangel an Emotion eine natürliche, vielleicht organisch bedingte Störung. In den meisten Fällen ist es eine anerzogene und später dann selbst aufrechterhaltene psychische Störung. Und sie ist künstlich erzeugt, was im Grunde erfreulicherweise bedeutet, dass sie nahezu jederzeit wieder ausgesetzt und Emotionen infolge wieder offen erfahren werden könnten. Sie ist genauso künstlich wie die Idee, dass Frauen an nur maximal zwei Stellen Körperbehaarung zeigen dürften. Oder die Idee, dass Männer sportlich, muskulös und dominant sein müssten. Die Idee, dass Menschen Nationen angehören würden als wäre das schon ein biologisches Merkmal. Oder dass Kinder höchst fleißig, willig, zumindest aber bitte widerstandslos immerzu den täglich vorgegebenen Schulstoff verarbeiten müssten.


Gefühle haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen?

Oder eben auch die Idee, dass Gefühle bzw. Emotionen nicht auf die Arbeit gehören.

Wie wir mit Emotionalität generell und am #Arbeitsplatz gut umgehen können, ist eine Sache. Emotionalität auszuschließen ist eine ganz andere: Emotionen am Arbeitsplatz als unprofessionell zu sehen und zu verstecken, spricht bereits für eine ordentlich neurotische Vorstellung davon, wie Menschen bei der Arbeit sein müssten. Emotionen am Arbeitsplatz bei sich und anderen abzulehnen und zu unterbinden, könnte schon durchaus als Anzeichen einer Verhaltensstörung in Betracht kommen. Absolute Vorsicht geboten ist dann aber vor Menschen, die sich regelmäßig über Emotionen anderer lustig machen oder sie dafür abwertend etikettieren, gerne vor Publikum. Das könnte bereits auf eine Entwicklungsstörung hindeuten. Näher zu erkennen ist das anhand der gewählten Formulierungen, die dann inhaltlich und perspektivisch spezielle Sprachmuster aufweisen.



Gesellschaft und Emotionen


Emotionen sind und bleiben ein essenzieller Bestandteil des menschlichen Wesens. Emotionen je nach Bedarf „weglassen“ zu können ist ein fataler Irrglaube, wissenschaftlich unlängst widerlegt. Was bei dabei vielmehr geschieht, ist die gesellschaftlich antrainierte Störung, seine Emotionen nicht mehr wahrzunehmen oder adäquat zu kommunizieren. Kinder können ihre Emotionen in der Regel noch sehr gut und sehr intensiv wahrnehmen. Jedoch benötigen sie entwicklungsbedingt eben noch Kompetenzen und dafür vor allem Unterstützung, mit diesen bisweilen auch sehr überwältigenden Gefühlen sorgsam, liebevoll und konstruktiv umzugehen. Aber unsere #Gesellschaft hat da eine denkbar blöde Lösung für entwickelt: Die Idee, alle Emotionen außer Freude als unnötiges Übel, ja fast schon als Krankheit anzusehen und auszumerzen. Belastende Gefühle und Emotionen scheinen das Unkraut im modernen Vorgarten des Lebens zu sein: täglich rauszureißen, wegzubrennen, mit Pestiziden zu bekämpfen. Nur die hübschen, kleinen und penibel gestutzten Sträucher sollen da zu sehen sein. Im Grunde aber ist der tote Steingarten das pflegeleichteste Optimum…

Nur eine tote Emotion ist eine gute Emotion?

Anstatt zu lernen – was ganz natürlich wäre – wie man kompetent (=funktional) mit Gefühlen und Emotionen umgeht, hat ein immer noch dominierender Anteil der Gesellschaft beschlossen, sich damit gar nicht erst zu befassen. Und so wird flächendeckend untereinander Emotionalität verkrüppelt und von Generation zu Generation weitergegeben. Noch immer wird bereits Kindern in breiter Fläche beigebracht, Ihre Gefühle zu unterdrücken und nicht zu zeigen, Hauptsache sie „funktionieren“. Oder auf deren Gefühle wird von Erwachsenen nicht oder abweisend eingegangen. Dann bleiben Kinder mit ihren Gefühlen hilflos zurück. Beides wirkt sich in der Regel beziehungsstörend aus.

Und das hat entsprechende Folgen: Aus Kindern werden Erwachsene. Geistig-strukturell entwickelt sich unsere Gesellschaft nicht weiter. Vielmehr scheint sie derzeit sogar in ihrer Entwicklung wieder zurückzufallen. Für Demokratien beispielsweise geht es weltweit derzeit offenbar bergab: Mehrere Staaten/Gesellschaften sind über die vergangenen 10 Jahre wieder auf frühere, autokratische Entwicklungsstadien zurückgefallen, begleitet von zunehmender emotionaler Kälte und Respektlosigkeit gegenüber dem Leben in der Bevölkerung.


In den Beschreibungen der Entwicklungsstufen erwachsener Menschen gilt eine noch eher gering ausgeprägte Kompetenz, mit Emotionen annehmend und funktional umzugehen, kennzeichnend für frühe und mittlere Entwicklungsstufen der konventionellen Ebene. Meine persönliche Erfahrung lässt mich das etwas differenzierter einordnen: Das ist zwar durchaus stufentypisch, vor allem aber weil es kulturell pathologisch so verankert wurde. Ein dysfunktionaler, abwertender Umgang mit Emotionen ist keinesfalls natürliche Begleiterscheinung geistig-struktureller Entwicklung, sondern eine weit verbreitete kulturell etablierte Verhaltensstörung. Sie ist eben derart weit verbreitet, dass sie als normal, als selbstverständliche soziale Norm betrachtet wird. Der Umgang mit Emotionen hat zwar auch mit der Reifung unseres Ichs (also unserer psychologischen Identität) zu tun, aber da es ja eine „Entwicklung“ ist, müsste sich darin eigentlich ein stetiger „Ausbau“ an Kompetenz im Umgang mit Emotionen zeigen (u.a. bewusst wahrnehmen, verstehen, wertschätzen, einordnen, kommunizieren).

Das Gegenteil ist der Fall: Gesellschaftlich unterbinden wir vielerorts und ständig genau diese entscheidende und uns sozial verbindende Kompetenz! Alle möglichen Kompetenzen bauen wir aus wie die Weltmeister: Wir können hinein bis in komplexeste abstrakte Theorien denken, trainieren unsere Körper zu sportlichen Höchstleistungen, spielen virtuos Instrumente, bauen immer höhere Wolkenkratzer, aber auch Waffensysteme, die in wenigen Minuten fast die gesamte Menschheit auslöschen können.

Nur die Kompetenz, mit Emotionen gut umzugehen, die machen wir kontinuierlich konsequent kaputt. Aber selbst das tun wir auf meisterhaft kreative Art. Anflüge von Angst und Trauer im Alltag? „Zupp!“- weg mit dem Emotions-Unkraut! Wenn’s mit der Freude dann zwangsläufig auch schon nicht mehr so gut läuft, hilft Alkohol oder niedere sadistische Triebbefriedigung mittels „Deutschland sucht…“ oder Dschungel- TV-Formaten. Kinder mobben sich inzwischen bis aufs Messer. Auf Social Media werden vor laufender Kamera Gewaltopfer gezeigt und deren Verzweiflung lustvoll verhöhnt - Das gibt viele Likes! Daraufhin meist gefordert: Konsequenzen - und selten untersucht: psychische Ursachen emotionaler Empathielosigkeit. Mobbing & Schikane in Organisationen boomt mehr denn je, heißt nur nicht mehr Mobbing, sondern wird vielleicht als eng fachaufsichtliche Begleitung bezeichnet. Wer mit Ausbeutung und Hasstiraden am Arbeitsplatz nicht zurechtkommt, emotional noch nicht genug abgestumpft ist, wird zum Resilienz-Training geschickt oder nach Möglichkeit gleich „als zu weich für den Job“ entlassen…

Und zugleich wundern wir uns allen Ernstes über eine zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft?

Das alles sind lediglich die Früchte unserer jahrzehntelang sorgsam flächendeckend betriebenen Emotionsverkrüppelung. Es ist sozusagen Erntezeit. Unzählige Menschen gehen jährlich allein in Deutschland psychisch zugrunde an dieser unsäglich blöden Idee und dem biologisch völlig irrsinnigen Ideal unserer Gesellschaft, belastende Gefühle und Emotionen wären unbeliebt und überflüssig wie ein entzündeter Blinddarm. Nur ein Beispiel von zahlreichen: Regeln sind durchaus sinnvoll für ein soziales Miteinander. Als Sie noch ein Kind waren - Wie haben Ihre Eltern Regeln durchgesetzt? Wie genau geschah das, wie fühlten Sie sich dabei, und wie sind Ihre Eltern dabei auf diese Gefühle eingegangen? Durften Ihre Gefühle trotz Durchsetzung der Regel da sein, gezeigt werden und wurden geachtet? Oder wurden sie übergangen, geächtet statt geachtet oder gar bestraft? Wie setzen Sie heute Regeln gegenüber andere Menschen oder Ihren eigenen Kinder durch? Unter Ablehnung und Ignoranz von Emotionen oder unter ehrlicher Anerkennung und Achtung von Emotionen? Möchten Sie mit Ihren Gefühlen anerkannt werden oder finden Sie es in Ordnung, wenn Ihr Gegenüber darauf nicht eingeht oder Sie dafür abwertet? Haben Sie manchmal den Gedanken, dass es ohnehin niemanden interessiert, wie und was sie fühlen? Wann und vom wem wurden Sie zuletzt nicht nur beiläufig "Wie geht's?" gefragt, sondern mal direkt und aufrichtig interessiert gefragt, wie sie sich fühlen? Manche Menschen ertragen diese Frage nicht einmal...

Falls Sie mal einen kleinen kompakten und berührenden Einblick bekommen möchten, was diese pathologische Emotionslosigkeit unserer Gesellschaft für Auswirkungen auf viele von uns hat, ein Tipp: Instagram-Account von geloyconcepcion besuchen.



Wie kommen wir da raus?

Unsere westliche Gesellschaft ist geprägt durch den psychologischen Entwicklungsschwerpunkt der Stufe des „Expertentums“ (Stufe E5 - auch: "Rationalistisch"). Autokratisch und totalitär geführte Gesellschaften liegen im Schwerpunkt auf der „Konformistischen“ Stufe E4 (auch: "Gemeinschaftsbestimmt") – Menschen auf dieser Stufe sind oft gut manipulierbar, unterwürfig und folgsam. Für weitere Reifung über die unsere Gesellschaft auszeichnende Entwicklungsstufe E5 hinaus (eine individuelle Entwicklungsmöglichkeit besteht nach derzeitigen Erkenntnissen bis zur Stufe E10) ist aber eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühls- und Emotionswelt unverzichtbar. Das erklärt dann vielleicht auch, weshalb schon wieder deutlich weniger Menschen die #Entwicklungsstufen E6 und nur sehr wenige Menschen noch spätere Entwicklungsstufen erreichen. In einer Gesellschaft, die Emotionalität am liebsten abschaffen möchte, wird die wichtigste Entwicklungskompetenz pathologisch unterdrückt: Ein kompetenter, liebevoller und integrierender Umgang mit allen unseren Emotionen als wesentlicher Bestandteil unseres menschlichen Daseins. Wäre genau das unsere gesellschaftliche Norm anstatt der bisherigen Arbeit gegen unsere Gefühle, dann wäre eine Entwicklung und mit ihr ein vernünftiger, liebevoller Umgang untereinander ein Selbstgänger. Autoritäre Machtmenschen haben gerade daran übrigens keinerlei Interesse, denn deren Macht basiert auf Unterdrückung, blinder Gefolgschaft und Ausgrenzung gereifter Menschen.


Wenn Ihnen also demnächst wieder ein Schlaumeier begegnet, der meint, erwachsene Menschen bräuchten keine Emotionen mehr und bei der Arbeit wären die fehl am Platz: Blicken sie diesem Menschen einmal schweigend tief in die Augen und denken Sie dabei an die Folgen der emotionalen Verkrüppelung unserer Gesellschaft. Ich vermute, dass sich auch in diesem Menschen schon nach wenigen Sekunden eine Emotion regen und zeigen wird. Darauf könnte man aufbauen.


© 2023 Björn Gäbe

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